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Leseprobe “Jagd durch den Sumpf”

Dren rannte. Seine Füße platschten durch den Morast, und es wurde mit jedem Schritt anstrengender, das Gleichgewicht zu wahren und die Stiefel wieder aus dem Schlamm zu ziehen. Doch das Stöhnen der Untoten in seinem Rücken gab ihm genügend Motivation, vorwärts und immer weiter zu laufen. Zwar waren die Leichen langsamer als er, doch es scherte sie nicht, ob sie versanken, oder auch komplett in einem Sumpfloch untergingen. Sie wanderten unbeeindruckt hindurch und kamen auf der anderen Seite wieder heraus. Das Schilf peitschte Dren ins Gesicht. Dieser verdammte Sumpf! Mücken prallten von Drens Gesicht ab und er schlug mit wild wedelnden Armen um sich. Weniger, weil er sich einbildete, dass es die Biester vertreiben würde, als um seine Panik zu bekämpfen. Viel brachte es nicht. Er hustete und verschluckte einige der kleinen Quälgeister, doch das war sein geringstes Problem. Ein Pfeil zischte an ihm vorbei. Warum war dieser Trupp Untote überhaupt hier? Das Ganze hatte eine ganz normale Patrouille werden sollen. Schwarzfurt war eingenommen, zumindest für den Moment, eigentlich hätten die Untoten sich irgendwo weit im Norden oder sonst wo sammeln müssen, statt durch den Sumpf zu streifen und Patrouillen aufzureiben. Es waren einfach zu viele gewesen. Acht Mann, allesamt ausgebildete Selbiaten, und sie hatten keine Chance gehabt. In Drens Kopf flüsterte es, dass er nun, wo er alleine war, noch viel weniger eine Chance hatte, aber er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Zu sehr war er damit beschäftigt, auf dem mit Grasbüscheln und Schlammlöchern übersäten Untergrund nicht aus dem Tritt zu geraten. Wie er allein im Sumpf überleben sollte, konnte er sich immer noch überlegen, wenn er erst einmal entkommen war.
Eine Hand packte ihn am Arm und der Schwung der Bewegung brachte ihn aus dem Tritt und ließ ihn haltlos neben den kläglichen Überresten des Weges zwischen das Schilf rutschen. Er schrie auf und zog sein Messer, um sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen.

“Nicht! Ich bin’s!” Dren erkannte Antras kaum, so verschmiert war er mit Dreck und Blut, doch der Klang der menschlichen Stimme reichte aus, ihn vom Zustechen abzuhalten. Antras fixierte ihn noch einen Moment mit seinem Blick, bis er sicher sein konnte, erkannt worden zu sein, dann zog er Dren einige Schritte tiefer ins Schilf und bedeutete ihm, still zu sein. Dren glaubte, sein Herzschlag müsse meilenweit zu hören sein, aber er ließ sich tiefer ins matschige Wasser sinken und bemühte sich erst einmal, seinen Atem wieder unter Kontrolle zu bringen. Das Licht war nun kaum noch vorhanden, doch er konnte die Schatten einiger Untoter ausmachen, die an ihrem Versteck vorbeizogen. Dren war froh, nicht ihre eingefallenen, verwesenden Gesichter sehen zu müssen, doch das Geräusch, mit dem die Schilfrohre über die wächserne Haut strichen, jagte ihm kalte Schauer über den Rücken. Sie warteten noch einige Minuten unbeweglich zwischen den Schilfrohren, bis Antras sich vorsichtig aufrichtete und mit verengten Augen den Blick in die Dunkelheit schweifen ließ. Er nickte und meinte leise: “Sieht so aus, als wären wir sie erstmal los.” Er trat einen Schritt auf das nächstbeste Grasbüschel und schüttelte seine durchnässten Stiefel. Nicht, dass es viel gebracht hätte. “Lass uns einen etwas trockeneren Platz suchen.” Dren hatte langsam die Fassung zurückgewonnen. “Na viel Glück. Ich denke, der nächste Ort, der wirklich trocken ist, ist Bogenfurth…” Antras lachte leise und sah sich um, dann deutete er auf einen krüppeligen Baum, der nicht weit entfernt aus dem Moor ragte. “Da vielleicht.” Er platschte zu dem Baum hinüber, und tatsächlich gab es hier zumindest so viel festen Boden, dass sie sich aus dem Wasser ziehen konnten. Antras brach prüfend einen der Äste ab und seufzte. “Das wird kein sonderlich gutes Feuer, wenn überhaupt.” Dren zog die Augenbrauen zusammen. “Du willst ein Feuer machen? Haben dir die Untoten vorhin nicht gereicht? Also für mich waren es mehr als genug. Und für die anderen auch.” Er verstummte und auch Antras‘ Blick wurde finster. Er überlegte und zählte dann an den Fingern ab. “Was wissen wir denn? Tarog ist tot, das Schwert ging direkt durch seine Brust. Niobe ist ins Wasser gefallen, ich bezweifle, dass sie es geschafft hat bei dem, was da unterwegs war. Qundrach hat seine Waffe verloren und sie haben ihn gepackt, das hab ich noch mitbekommen, aber dann war es ziemlich schnell vorbei mit der Übersicht. Ich hab Iondriel schreien gehört, es klang ziemlich endgültig…” Antras Blick wurde traurig. Dren seufzte. Auch er hatte die so feingliedrige und zugleich erstaunlich zähe Eldar gemocht. Doch er ließ das Grauen, das der Tod seiner Kameraden in seinem Herzen eingepflanzt hatte, nicht an sich herankommen, noch nicht. Wenn sie jetzt der Trauer verfielen, waren sie so gut wie tot. Er analysierte möglichst sachlich weiter: “Ohne Waldläufer wird es hier draußen ziemlich schwierig. Ein Magier wär jetzt nicht schlecht, aber davon waren ja schon im Lager zu wenige. Wulf haben sie den Arm abgerissen, selbst wenn sie dann von ihm abgelassen haben, ist er wahrscheinlich schon verblutet.” Antras schüttelte bedauernd den Kopf. Dren fuhr fort: “Was mit Garron ist, weiß ich nicht, vielleicht hat er sich durchschlagen können. Aber ganz ehrlich, wenn er es geschafft hat, wird er nicht nach uns Ausschau halten, er hat ja schon die ganze Zeit gesagt, dass er ohne uns besser dran wär. Ich weiß nicht, warum er sich überhaupt zur Armee gemeldet hat.” Antras zuckte die Schultern. “Spielt jetzt auch keine Rolle, den sehen wir wahrscheinlich nie wieder. Also…” Er zählte an den Fingern ab: “Keine Magier, keine Waldläufer, kein Kommandant. Wobei, nach der Kommandokette bist das jetzt du. Also, was sind die Befehle?” Dren zog eine Augenbraue hoch. Er hatte natürlich wie alle Rekruten der höheren Lehrjahre das eine oder andere Übungsmanöver befehligt, aber er hatte sich nie als Kommandant gefühlt. Wobei es nicht allzu schwer war, einen einzelnen Krieger zu kommandieren. Einen Schildwall würden sie so oder so nicht mehr zustande bringen. “Wo ist überhaupt dein Schild?” Antras machte eine wedelnde Handbewegung in die Richtung, aus der sie gekommen waren. “Im Gesicht eines Untoten. Mit etwas Glück hat er ihn wieder losgelassen, aber vielleicht trägt er ihn auch weiter durch die Gegend.” Dren zuckte zusammen und schalt sich einen Narren. “Bist du eigentlich verletzt?”, fragte er Antras, der ihn angrinste. “Jetzt erst die Frage, und das vom besten Heiler der Lanze? Das hätt im Ausbildungslager aber erstmal Liegestütze gegeben.” Dren sah ihn finster an, kramte in seiner Tasche und holte sein Zwergenlicht hervor. Er drückte die Rune an der Unterseite und der kleine Stein leuchtete weiß auf. Dren leuchtete Antras einmal rundherum ab. Es schien ihm einigermaßen gut zu gehen, bis auf etliche Kratzer, die man bei nächster Gelegenheit also irgendwann in ein paar Wochen mal gründlich säubern sollte.
Dren untersuchte auch sich selbst, konnte aber keine sonderlichen Verletzungen feststellen. Er ließ den Lichtschein seines Zwergenlichtes über den Boden wandern und suchte eine halbwegs trockene Stelle heraus, auf der er sich niederließ. “Ich schlage vor, dass wir hier die Nacht verbringen – was anderes wird uns nicht übrig bleiben. Und morgen sehen wir dann zu, dass wir nach Schwarzfurt zurückkommen.” Antras warf einen wehmütigen Blick auf das, was mit großem Glück vielleicht halbwegs als Feuerholz getaugt hätte, nickte dann aber zustimmend. Antras übernahm die erste Wache und Dren machte es sich so gemütlich, wie es eben ging. Als Dren erwachte, war er ziemlich durchgefroren. Er zog seinen klammen Mantel enger um die Schultern und gab sich der Illusion hin, dass es etwas bewirkte. Dann runzelte er die Stirn. War er deswegen aufgewacht? Es war nicht wirklich kälter als vorher, und er hatte ein vages Gefühl von Gefahr. Er sah neben sich und erkannte, dass auch Antras in die Dunkelheit starrte. Dren lauschte. Er wollte etwas sagen, doch da blitzte es am Horizont. Es war kein natürlicher Blitz, sondern ein violettes Leuchten.”Was…” Er verstummte, als ein Schrei aus der Ferne zu ihnen drang. Es klang fast schon unmenschlich, obwohl sich Dren ziemlich sicher war, dass es genau das nicht war, und von tiefer Panik erfüllt. Als würde jemand bei lebendigem Leib auseinandergerissen. Dren erinnerte sich daran, wie Wulf geklungen hatte, als ihm der Arm ausgerissen worden war, und seine Kiefer spannten sich an. Drens Hand klammerte sich um den Dolch an seiner Seite, doch was immer da geschah, es war zu weit weg, um jetzt schon Energie darauf zu verschwenden, in Kampfhaltung zu springen. Sie lauschten. Es waren noch mehr Schreie zu hören, aber es gab keine Hinweise darauf, was dort geschah. Nach einer Weile wurde es wieder still.

Dren und Antras hatten sich mit den Nachtwachen abgewechselt, doch mehr als ein paar Sumpfkröten waren nicht vorbeigekommen. Jede von ihnen hatte Dren aufs Neue erschreckt, und er war jetzt schon müde und überreizt. Er atmete ein paar Mal tief durch. So würden sie hier keinen Tag überleben. Ja, man konnte hier an jeder Ecke draufgehen, aber das konnte man in der Hauptstadt theoretisch auch. Kein Grund, die Nerven zu verlieren. Antras hielt ihm einen Kanten Brot hin. Dren lächelte kurz pflichtschuldig, und sie falteten die Hände. Er sprach ein kurzes Essensgebet, das wie alle guten Essensgebete in Selbion auf “Mahlzeit” endete, und Antras antwortete entsprechend, bevor er sich über das karge Frühstück hermachte. Der Morgen war wie immer, seit die Vampire Nightfall besetzt hatten grau und wolkenverhangen, aber der Wind war erträglich und ihre Kleider waren über Nacht zumindest etwas getrocknet. Und in Sichtweite gab es keine Untoten. Das hieß zwar nicht, dass keine da waren, aber immerhin konnten sie einigermaßen friedlich den Tag beginnen. Dren versuchte, seine Gedanken zu ordnen. “Wir sollten zurückgehen und den Rest unserer Lanze aussegnen, sonst treffen wir sie bald wieder.” Sein Gefährte nickte ernst. “Und dann müssen wir wieder nach Schwarzfurt zurück.” Antras meinte: “Gerne, wenn du eine Idee hast, in welcher Richtung das liegt.” Dren wollte “Südosten” sagen, als ihm auffiel, dass ihnen diese Information rein gar nichts nützte. Sie hatten dank der dichten Wolkendecke, die auch nicht so schnell wieder verschwinden würde, weder Sonne noch Sterne, an denen sie sich orientieren konnten, und ohne einen sumpfkundigen Waldläufer würden die Pflanzen oder was auch immer ihnen nicht weiterhelfen. Und irgendwelche magischen Tricks, mit denen man seinen Weg finden konnte, beherrschte keiner von ihnen. “Eins nach dem anderen.”, sagte er und meinte mit einem schiefen Grinsen: “Marschformation einnehmen.” Antras lachte und stellte sich vor ihm auf. Ob er damit den Heiler oder den Kommandanten schützte, war letztlich egal, die Untoten konnten hierzulande ohnehin von überall kommen.
Sie versuchten, den Kampfplatz wiederzufinden. Doch abgesehen von ein paar abgeknickten Schilfrohren, die sie in der letzten Nacht produziert hatten, konnten sie ihre Spuren nicht zurückverfolgen. Nach einer guten halben Stunde, die sie wahrscheinlich mehr oder weniger im Kreis gegangen waren, seufzte Dren und meinte: “Das hat keinen Zweck. Lass uns ein Gebet für sie sprechen und dann versuchen wir, irgendwie wieder aus diesem Sumpf rauszukommen.” Antras nickte bedrückt und ließ sich auf dem nächstbesten Grasflecken auf die Knie nieder. Seine Hand umschloss das silberne Drachenamulett, das um seinen Hals hing, und Dren faltete die Hände. Die Augen zu schließen wagte er nicht. Er sprach: “Xynit, wir bitten dich: führe unsere gefallenen Kameraden zu Myrias heiligem Feuer, auf dass ihre Seelen in den ewigen Kreislauf zurückkehren mögen. Myria, erleuchte den Weg für jene, die dem Feind entronnen sind. Bring auch uns wieder an dein nährendes Feuer zurück, auf dass wir uns gestärkt dem Feind entgegenstellen können und die finstere Brut aus deinen Landen vertreiben. Gelobt sei dies…” Antras fiel in das Hohegebet ein. “Im Lichte des Feuers, über das Myria seit Gottwerdung herrscht. Gelobt sei dies, im Schatten des Todes, über den Myria in gerechter Weise wacht. Gelobt sei dies, im Glanze ihres silbernen Schuppenkleides, das alles Sein überstrahlt.” Sie sahen einander an. Mehr war im Moment nicht zu machen. Sie konnten nur hoffen, dass sie ihren Gefährten nicht in nächster Zeit auf der Gegenseite antreffen würden.
Sie entschieden sich, ihren Weg danach auszurichten, wo man am besten gehen konnte, ohne zu versinken. Das führte dazu, dass sie in ziemlichen Schlangenlinien durch den Matsch wanderten. Dren hatte aufgehört, seine Schuhe bei jeder tieferen Pfütze, in die er hineintappte, auszuschütteln, und seine Stiefel quietschten traurig. Immerhin schienen sie sich durch eine relativ untotenfreie Gegend zu bewegen. Sie sahen keine Leichen, weder wieder aufstehende noch andere. Vielleicht waren aber auch die Mücken untot, zumindest schien es keinen Unterschied zu machen, ob man sie tot schlug oder nicht. Vielleicht sollte er anfangen, sie auszusegnen… Drens Gedanken schweiften ab, und so merkte er erst, dass Antras stehen geblieben war, als er beinahe in ihn hineinlief. Schon wieder unaufmerksam! Er verfluchte sich in Gedanken. Sie waren zu wenige, um sich auf die Wachsamkeit der anderen zu verlassen. Zumal man das ohnehin nie sollte. Er verschob den Rest der Strafpredigt für sich selbst auf einen anderen Zeitpunkt, als Antras hinter einen moosigen Felsen in Deckung ging und über den Rand den steil abfallenden Hügel hinunterblickte, an dessen Kuppe sie angekommen waren. Dren hatte nicht einmal bemerkt, dass sie sich bergauf bewegt hatten. Er ließ sich neben Antras in den Windschatten des Felsens gleiten und spähte den Hügel hinunter. Er sah – überhaupt nichts. Irritiert sah er seinen Gefährten an, der auf ein schmales Band deutete, dass sich hinter einem kleinen Wäldchen mit dichtem Unterholz dahinzog. Ein Weg. Dren nickte Antras anerkennend zu. Der Krieger wies noch einmal den Hügel hinab und nun erkannte Dren auch die Gestalten, die sich in einiger Entfernung auf dem Weg bewegten. Er verengte die Augen, aber die Wappenröcke waren kaum in besserem Zustand als ihre eigenen: nahezu unkenntlich. Er schloss die Augen und lauschte. Das leise Echo eines Liedes klang zu ihnen herauf. Untote waren es also mit Sicherheit nicht. Höchstens Söldner der Gegenseite, aber da hörte er etwas, das sein Herz schneller vor Erleichterung schlagen ließ: ein laut gebrülltes “Wütend! Hässlich! Vierundsechzig!”
Im Lager mied er die Spinner vom 64. Banner, so gut es nur ging, aber jetzt wäre er ihnen am liebsten um den Hals gefallen. Entbehrlich, wie dieser Haufen ehemaliger Sträflinge und sonstiger Galgenvögel war, konnte es zwar gut sein, dass sie ohne weitere Unterstützung auf sonst was für ein Himmelfahrtskommando geschickt worden waren, aber alles war besser, als weiter blind durch den Sumpf zu stolpern. “Das 64., na das ist doch besser als nichts!”, meinte auch Antras, und begann, an der Seite des Hügels hinunter zu steigen. Da bemerkte Dren eine Bewegung in dem Wäldchen, das am Fuß des Hügels lag, und er zischte: “Warte!” Antras sah ihn irritiert an, ließ sich aber wieder in Deckung sinken und Dren starrte auf den Busch, in dem er die Bewegung wahrgenommen hatte. Dort stand eine fahle Gestalt, nahezu unbeweglich. Nun, wo er darauf achtete, entdeckte er noch eine weitere, und noch eine. “Das ganze Wäldchen da unten ist voll mit Untoten.” Flüsterte er. Antras sah genauer hin und nickte, dann verengte er die Augen und meinte: “Und nicht nur das. Kann es sein, dass das ein ganzes Lager ist?” Dren zog die Augenbrauen zusammen. Ein Lager hätten sie doch sehen müssen… Er stemmte sich vorsichtig über den Felsen, um einen besseren Winkel einzunehmen, und tatsächlich: Zwischen den Steinen, geschützt durch einige umgestürzte Bäume, befanden sich mehrere graue Zelte. Entweder hatten die Untoten die Besitzer niedergemacht, oder aber diese standen auf Seiten der Vampire. Auch Antras schob sich ein Stück höher und beobachtete das Lager. Dren erkannte inzwischen immer mehr Details. Es war nicht besonders gut befestigt, allerdings verließ ihn jegliche Lust daran, es näher in Augenschein zu nehmen, als er die beiden kopflosen Körper erkannte, die auf Holzpfählen rechts und links des Eingangs aufgespießt waren. Er wollte sich wieder hinter den Felsen gleiten lassen, als Antras scharf die Luft einsog und auf einen Pfosten zwischen den Zelten zeigte. Dort war jemand angebunden. Dren konnte nicht erkennen, ob die Gestalt noch lebte, aber sie war nicht wie die anderen auf einen Pfahl gespießt, sondern schien gefesselt zu sein. “Wir können da nicht einfach vorbei, die bringen sie um”, meinte Antras. Sie? Dren sah noch einmal hin. Richtig, entweder war es ein eher zierlicher, langhaariger Mann, der mit Vorliebe Kleider trug, oder die gefangene Person dort unten war eine Frau. Und Antras hatte Recht. Selbst wenn sie es schafften, zum Weg durchzubrechen, war das Leben der Gefangenen mit ziemlicher Sicherheit verwirkt, sobald eine Chance bestand, dass sie befreit werden könnte. Die Schergen der Vampire kannten keine Gnade. Wehmütig ließ Dren seinen Blick zum Weg schweifen, wo das 64. inzwischen schon ein ganzes Stück weitergewandert war und auf den Horizont zu zog, dann nickte er. “Wir holen sie da raus.” Dies war leichter gesagt als getan. Das Lager war von untoten Wachen umstellt, und sie hatten keine Ahnung, in welchem Zustand sich die Gefangene befand und ob sie alleine war. Mehr als eine Person, womöglich nicht einmal gehfähig, dort hinaus zu befördern, dürfte sich als nicht gerade einfach erweisen. Sie würden sich zunächst auf der Seite des Hügels hinabschleichen müssen – was hieß, dass sie den Feind aus den Augen verloren. Dann um die Felsen herum, durchs Unterholz, an den Zelten vorbei – ein Kinderspiel, solange sie nicht daran dachten, wie ihre Chancen standen. Der Notfallplan war klar: zum Weg und dem 64. hinterher. Sie waren zwar zügig marschiert, müssten aber immer noch einzuholen sein. Doch erstmal hieß es, dorthin zu gelangen.

Dren schlich voran, während Antras die Umgebung im Auge behielt. Er setzte sorgsam einen Fuß vor den anderen. Untote waren zwar nicht dafür bekannt, aufmerksam auf ihre Umgebung zu lauschen, doch konnten ein paar losgetretene Kiesel leicht einen kleinen Erdrutsch verursachen, der ihre Position verriet. Und je weniger Lärm sie verursachten, desto größer die Wahrscheinlichkeit, es lebend durch das Lager zu schaffen. Angestrengt ließ Dren seinen Blick zwischen dem Boden und dem Unterholz am Fuß des Hügels hin und her huschen. Er hoffte, auf diese Weise sowohl seine Schritte als auch das etwaige Auftauchen von Feinden im Auge behalten zu können. Einzelne Steinchen kollerten unter seinen Füßen davon, doch nach ein paar nervenaufreibenden Minuten konnte er die Felsen loslassen. Mit einem leisen Seufzer der Erleichterung tauchte er ins Unterholz ein. Während er sich durch die Zweige schob, hörte er Antras hinter sich knacken und knarzen. Wenigstens trug er nicht wie so manch anderer Krieger ein Kettenhemd oder gar eine klappernde Vollplatte, sondern eine solide gearbeitete Lederrüstung. Im Moment wäre es Dren allerdings lieber gewesen, Antras hätte Stoff getragen wie er selbst. Wie um ihn zu verhöhnen blieb sein Ärmel an einer Astspitze hängen und er musste ihn vorsichtig aus dem Gebüsch zupfen, um kein Geräusch zu verursachen. Als Dren den Blick hob, sah er einen der Untoten, keine zehn Schritte entfernt. Zum Glück blickte dieser in die entgegengesetzte Richtung. Dren atmete flach und schob sich zentimeterweise weiter, bis er den Busch umrundet hatte und durch eine Lücke im Geäst auf die Rückseite eines der Zelte schlüpfen konnte. Er blickte sich kurz nach Antras um, der ebenfalls sicher angekommen war und ihm zunickte. Dren blickte vorsichtig um die Zeltwand herum und hielt nach der Gefangenen Ausschau. Es war nicht schwer, sie ausfindig zu machen: Sie stand nach wie vor an den Pfosten gebunden. Und offensichtlich hatte sie genug Kraft in sich, um dem grobschlächtigen Kerl, der sich mit schmierigem Grinsen vor ihr aufgebaut hatte und ihr Kinn mit der Hand festhielt, ins Gesicht zu spucken. Eine schallende Ohrfeige war die Folge und die junge Frau sackte – soweit es die Fesseln zuließen – in sich zusammen. “Heute Abend wirst du nicht mehr so frech sein”, raunzte der Kerl und begab sich zu einem Topf, der über dem matt glimmenden Feuer hing. Er rührte mit einem großen Holzlöffel darin herum, nahm eine Holzschüssel, die auf dem Boden stand, fuhr mit einer kaum weniger dreckigen Hand einmal hindurch und klatschte dann etwas von dem undefinierbaren Schleim in die Schüssel. Er fischte einen Löffel aus der Tasche seines Wamses und begann zu essen. Dren bedeutete Antras mit einer Geste, sich nicht zu rühren. Mit etwas Glück würde der Kerl verschwinden, wenn er fertig war. Dren sah sich die Gefangene genauer an. Sie war mit einigen groben Stricken gefesselt, schien aber keine schweren Verletzungen davongetragen zu haben. Sie trug eine dunkelblaue Robe ohne sichtbare Embleme, aber die aufgespießte Leiche des Burschen, dessen Kopf an einer anderen Stelle des Lagers platziert war als sein Körper, trug die Überreste eines rötlichen Wappenrocks mit einem Myriazeichen auf der Brust. Mit großer Wahrscheinlichkeit also Selbiaten. Als der Kerl seinen Brei zu Ende gelöffelt hatte, streckte er sich, gähnte ungeniert und stapfte in das große Zelt, das sich auf der anderen Seite des Platzes befand. Sie hatten Glück: er ließ die Zeltwand vor dem Eingang herunter. Wahrscheinlich machte er ein Schläfchen. Dren warf noch einmal einen Blick in alle Richtungen, dann gab er Antras einen Wink und zog sein Messer, während er auf den Pfahl zuhuschte. Die Gefangene starrte schmerzerfüllt ins Leere, doch ihre Augen wurden schlagartig klar, als Dren neben ihr auftauchte. Dren legte den Finger auf die Lippen und begann, an den Fesseln herumzusäbeln, während Antras Wache hielt. Jetzt, wo er sich direkt bei ihr befand, erkannte Dren, dass das Mädchen kaum älter war als er selbst. Sie hatte ein paar unschöne Schnitte an den Armen und überall Kratzer, schien aber ansonsten tatsächlich keine schweren Verletzungen abbekommen zu haben. Sie unterdrückte einen Schmerzlaut, als Dren mit einem Ruck die letzten Fasern durchschnitt, und rutschte ein wenig den Pfahl entlang hinunter, während sie mit zusammengebissenen Zähnen ihre Handgelenke rieb. Dann setzte sie das dankbarste Gesicht auf, zu dem sie im Moment in der Lage zu sein schien, und ließ sich – ein wenig unbeholfen, aber dennoch leise – neben Dren in die Knie sinken. Sie schlichen sich in den Schatten des Zeltes zurück, aus dem sie gekommen waren, und Dren wollte gleich weiter in Richtung des Weges, doch das Mädchen hielt ihn am Handgelenk fest.“Wir können noch nicht weg” flüsterte sie. Antras beugte sich zu ihnen. “Sind hier noch andere?”, fragte er und sah sich um. Sie schüttelte den Kopf. “Die anderen beiden sind tot, aber wir müssen meine Tasche holen.” Dren glaubte, nicht recht zu hören. “Jetzt hör mal zu…” “Skarifa”, antwortete sie und schürzte ob seines Tons herausfordernd die Lippen. “Meinetwegen. Vergiss deine Tasche, wir können froh sein, wenn wir lebend hier rauskommen! Und jetzt komm!” Er zog sie am Arm, aber sie riss sich los, und Dren bemerkte, wie knapp sie daran waren, ein kleines bisschen zu schwungvoll zu werden und irgendetwas lautes umzustoßen. Sie schüttelte vehement den Kopf. “Ihr versteht nicht! Heute Abend kommt der Vampir zurück, und wenn dann meine Tasche noch hier ist, geht es übel aus.” Dren sah sie skeptisch an. Sie schien einen Moment unschlüssig, wie viel sie ihnen erzählen sollte, holte dann aber aus: “Wir haben ein Artefakt an uns gebracht. Karbúl ist im Moment hier der Anführer, aber er hat keine Ahnung von Magie. Er wird das Artefakt nicht erkennen, selbst wenn er sich die Tasche genauer anschaut. Aber der Vampir wird es erkennen, und einzusetzen wissen. Und wenn das passiert, dann gnade uns Myria!” Antras war ein wenig blass geworden und sah Dren erwartungsvoll an. Dieser warf noch einmal einen Blick in die verlockende Lücke im Geäst, durch die er den Weg fast schon zu sehen meinte. Dann seufzte er. “Na schön, wo ist die Tasche denn?” Das Mädchen machte eine Kopfbewegung zu dem großen Zelt, in dem Karbúl verschwunden war. “Da drin.” Dren fluchte im Stillen, während er mit Skarifa zusammen in Richtung Zelt schlich. Warum gerade dort? Ausgerechnet da, wo der wahrscheinlich einzige mit eigenem Willen ausgestattete Bewohner dieses Lagers sich zur Ruhe begeben hatte. Er atmete durch. Jetzt war es nicht mehr zu ändern. Sie brauchten diese verflixte Tasche. Dren hielt direkt vor dem Eingang inne und spähte durch eine Lücke zwischen den Zeltbahnen ins Innere. Es war dunkel. Das Zelt war vielleicht irgendwann einmal weiß gewesen, inzwischen hatte es die Farbe wie alles hier: braungrüngrau, schlammbespritzt und schimmelig. Das ohnehin graue Licht des Tages ließ es nur bedingt durch, lediglich Schemen waren im Inneren zu erkennen. Allerdings konnte Dren ein grummeliges Schnarchen vernehmen, und an der Rückseite des Zeltes auf einem Feldbett lag ein rundlicher Haufen, der sich in regelmäßigen Abständen hob und senkte. Behutsam schob Dren die Stoffbahnen auseinander, und beeilte sich, in die entstehende Lücke zu treten, bevor der Lichtschein auf den Schlafenden fiel.
Er huschte vollends hinein und die ehemalige Gefangene schlüpfte ebenfalls ins Zelt. Noch bevor sich Drens Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten, hatte sie eine Ledertasche in einer Ecke des Zeltes ausgemacht, wo sie zwischen einem blutverschmierten Kurzschwert und einem verzierten Gürtel lag. Als sie die Tasche anhob, rutschte der Gürtel herunter und fiel mit einem metallischen Klappern auf das Schwert. Beide erstarrten, als der Haufen sich mit einem Grunzen bewegte, doch er drehte sich nur zur Seite und schnarchte weiter. Dren bedeutete ihr mit einer Kopfbewegung zu verschwinden, doch bevor er ihr folgte, zogen einige Papiere auf dem Tisch seine Aufmerksamkeit an. Wenn sie sich schon in einem Kommandozelt des Feindes befanden, konnten sie wenigstens ein paar Informationen mitnehmen. Mit einem Schritt war er beim Tisch und griff nach den Papieren, die dort lagen. Er konnte nicht erkennen, um was es sich handelte, aber er würde sicher nicht gemächlich eine Kerze anzünden, während hinter ihm ein Lakai der Vampire ein Schläfchen machte. “He!” Dren fuhr herum. Der Kerl auf dem Feldbett hatte sich aufgesetzt, er wirkte zwar etwas verschlafen, aber das hinderte ihn nicht daran, seine Beine vom Bett zu schwingen und ein gezahntes Messer aus einer Scheide am Gürtel zu ziehen. Dren hatte einen Moment lang das Bild vor Augen, wie er seinen eigenen Dolch aus der Scheide riss, zum Bett hinüberstürzte und ihn dem schmierigen Bastard in den fetten Wanst rammte. Doch er tat es nicht, sondern rief:“Weg hier!”, und schlug die Plane vor dem Eingang beiseite. Die Tasche in der Hand, rannte das Mädchen an ihm vorbei, und Karbúl musste eine Sekunde lang gegen die plötzliche Helligkeit anblinzeln, sodass auch Dren noch genug Zeit hatte, das Zelt hinter sich zu lassen. “Alarm!”, schrie die raue Stimme aus dem Zelt, und Antras, der bereits einige Schritte vorweggelaufen war, musste abrupt abbremsen, um nicht dem Untoten in die Klinge zu laufen, der vor ihm im Gebüsch auftauchte. Er schlug mit seinem Schwert nach der Waffe des Untoten, doch dieser wich erstaunlich geschickt aus und setzte nach. Das Mädchen hatte einen Haken geschlagen, als sich vor ihr der Kampf entspann, und versuchte, rechts an den beiden vorbei zu kommen, doch auch dort erschien eine wandelnde Leiche, und der Rüstung nach zu urteilen, die sie trug, war sie mit Sicherheit nicht mit einem Selbiatendolch und einer Ledertasche auszuschalten. Dren packte Skarifa am Handgelenk und zerrte sie in die entgegengesetzte Richtung. Er warf sich mit ganzer Kraft gegen Karbúl, der aus dem Zelt gestürmt kam und nun mit einem überraschten Grunzen wieder zurücktorkelte, wodurch er beinahe die Zeltbahn vor dem Eingang abriss. Dren hastete über den Mittelplatz. “Antras, zurück!”, rief er über die Schulter, und dieser fegte das Schwert des Untoten mit einem wuchtigen Hieb beiseite, duckte sich unter dem Schlag des Gerüsteten hinweg und rannte den beiden hinterher. Zum Glück war an dieser Stelle nach wie vor keine Wache zu sehen, doch Dren hörte, wie sich linkerhand ein weiterer Gegner näherte. Er schlug einen Rechtsbogen und hielt auf die Lücke im Unterholz zu, aus der sie gekommen waren. Er hörte Karbúl Befehle brüllen – und ein Geräusch, dass ihm trotz der Hitze, die ihn durchströmte, einen eisigen Schauer über den Rücken jagte: das Gebell von Hunden. Dren stürzte durch die Lücke und versuchte, eine Kurve um das Lager herum zu schlagen, um letztendlich doch noch irgendwie zum Weg zu gelangen und das 64. einzuholen, doch die Untoten, die in erstaunlicher Geschwindigkeit aus dem Wäldchen auf sie zuströmten, ließen ihn schnell diesen Plan verwerfen. Dren fluchte, aber es gab keine andere Möglichkeit. Und so sprinteten sie über die Flanke des Hügels auf die andere Seite und rannten um ihr Leben. Tiefer in den Sumpf hinein.


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